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Johann Simon Genten, Aachen
5. Juli 2017

Erwerbsminderungsrenten von psychisch oder geistig Behinderten oft falsch berechnet: Widerspruch und Klage vor dem Sozialgericht führen zu 200,- Eur höherer Rente

Als Rentenberater stelle ich immer wieder fest, dass vor allen Dingen Renten, die an geistig oder psychisch kranke Menschen gewährt werden, sehr oft falsch berechnet worden sind. Kann man gemeinhinsagen, dass jeder dritte Rentenbescheid irgendeinen Fehler enthält, so ist die Fehlerquote bei Bescheiden für die genannten Personengruppen aus meiner Erfahrung nahezu bei 100 %.
Die Ursachen sind vielfältig: Die nicht immer gradlinigen Versichertenbiografien spielen hier sicher eine ebenso eine wichtige Rolle wie die Tatsache, dass die Menschen sich selbst oft nicht hinreichend artikulieren können und oft nach meiner Erfahrung gesetzliche Vertreter überfordert sind, ja manchmal sogar den Menschen ein Gefühl der Rechtssicherheit gegeben, welches so nicht vorhanden ist: Der gesetzliche Betreuer ist in der Regel allenfalls Sozialarbeiter und damit weitgehend rechtsunkundig im Bereich der Rentenversicherung!
Traurig ist, dass überdies der Rentenversicherungsträger sehr oft Fehler macht. So im Fall der Frau X. Sie ist geistig behindert. Der Vater beauftragte mich, einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen. Die Rente wurde auch bewilligt, jedoch erhielt der Rentenbescheid trotz fundierter Rentenantragstellung diverse Fehler. Es wurde eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von 442,17 Eur netto auf der Basis von 17,33 Entgeltpunkten bewilligt. Nach Widerspruch und Klage waren es fast 50%, nämlich 200,- Eur mehr !
Ein durch aus typischer Fehler war hier, dass die Rentenversicherung den Versicherungsfall, also den Eintritt der Erwerbsminderung recht willkürlich festgelegt hatte. Der Eintritt des Versicherungsfalls ist maßgeblich nicht nur für das Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, also für die Voraussetzung der Rente als solche sondern kann auch die Höhe der Rente ganz wesentlich beeinflussen. Dies liegt u.a. daran, dass im Falle der Erwerbsminderung eine zum Teil sehr lange Zurechnungszeit der Biografie hinzugerechnet wird, die einen Durchschnittswert aus dem aus dem bis dahin zurückgelegten Versichertenleben bekommt. Es leuchtet ein, dass der Eintritt des Versicherungsfalles mit den davor liegenden rentenrechtlichen Zeiten für die Bewertung dieser Zurechnungszeit natürlich ganz erhebliche Bedeutung haben kann. Dies ist für den Laien oder bei oberflächlicher Betrachtung kaum zu erkennen. Nur der versierte und langjährig in dem Bereich tätige Rentenberater, der die Bedeutung der einzelnen rentenrechtlichen Zeiten für die Rente kennt,  kann ermessen, ob sich der Versicherungsfall beziehungsweise die Verlegung nach vorne oder nach hinten positiv auf die Rente auswirken kann oder gegebenenfalls sogar zu einer Gefährdung des Rentenanspruchs als solchen führen oder aber zu Gewährung einer Rente führen kann.
Im Falle der Frau X war laut Rentenversicherung der Versicherungsfall im Jahre 2012 eingetreten. Tatsächlich konnte ich im Widerspruchsverfahren jedoch erreichen, dass der Versicherungsfall auf das Jahr 2008 vorverlegt wurde. Hierdurch stieg die Monatsrente auf 19,04 Entgeltpunkten beziehungsweise 496,07 Eur. Also immerhin 55 Eur mehr Monatsrente.
Es waren aber noch weitere gravierende Fehler im Rentenbescheid. So hatte Frau X in einem Kinderheim ein Praktikum über ein Jahr absolviert. Die Rentenversicherung wollte diese Zeit weder als Schulausbildung noch als Fachschulausbildung und auch nicht als Berufsbildungsmaßnahme anerkennen. Eine Nachzahlung von Beiträgen, für die Anerkennung der Zeit als Pflichtbeitragszeit verweigerte sie ebenfalls. Erst im sozialgerichtlichen Verfahren (Aktenzeichen Sozialgericht Aachen S 5 R 636/15) konnte ich erreichen, dass die Rentenversicherung die Zeit als bewertete Berufsbildungsmaßnahme anerkannte und damit eine Lücke geschlossen wurde.
Weiter war es so, dass Frau X nach einer Lehre Arbeitslosengeld bezogen hatte und danach wegen Vermögens der Eltern versäumt hatte, sich weiter arbeitslos zu melden. Arbeitslosenhilfe konnte sie nicht beziehen. Erforderlich wäre eine Meldung beim Arbeitsamt als arbeitssuchend gewesen. Dies tat Frau X auch, jedoch erst nach einem Jahr. Folge war, dass die Rentenversicherung die nachfolgenden Zeiten der Arbeitslosigkeit und zwar insgesamt drei Jahre bei der Rente nicht als Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit anerkennen wollte. Auch hier konnte erst mit Hilfe des Sozialgerichts Aachen die Deutsche Rentenversicherung Rheinland überzeugt werden, dass, da die Klägerin in dem einen Jahr der nicht gemeldeten Arbeitslosigkeit etliche Eigenbemühungen wie Bewerbungen, Zeitungsanzeigen etc. unternommen hatte, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden, dies als sogenannter unschädlicher Überbrückungstatbestand anerkannt wurde und im Gefolge auch die folgenden drei Jahre Zeiten der Arbeitslosigkeit rentenrechtlich als Anrechnungszeit anerkannt wurden. Dies führte zu einer erheblichen Steigerung der Rente. Es ergaben sich nunmehr 23,8 Entgeltpunkte. Das sind 6,5 Entgeltpunkte mehr als beim 1. Rentenbescheid. Umgerechnet auf der Basis des aktuellen Rentenwertes ergab sich hier eine Steigerung um brutto circa 200 Eur monatlicher dynamischer Rente. Die Rente hatte sich damit  um fast 50 % erhöht.
Fakt1: Rentenbescheide von psychisch und geistig Behinderten sind in der Regel rechtswidrig.
Fakt2: Professionelle Hilfe und Begleitung lohnt sich! Sie macht sich mehrfach bezahlt.

Es versteht sich von selbst, dass Frau X wie auch ihre Eltern, die das gesamte Verfahren aktiv unterstützend begleitet haben, sehr glücklich mit meiner Arbeit waren. Traurig aus meiner Sicht, dass die Rentenversicherung sich so lange sträubte und Frau X bis zum Sozialgericht um ihre Rechte kämpfen musste.